Quelle: Originalaufzeichnung des Heimatortsbetreuer Herrn Franz Koberle, Bad Reichenhall; * 1916 in Hennersdorf

Die Geschichte der Ortsgemeinde Hennersdorf Kreis Hohenelbe

von Franz Koberle

Hennersdorf
Die Vertreibung aus der Heimat - Gedanken und Erinnerungen

von Ortsbetreuerin Anni Hackel, geb. Hanusch

Der erste Transport: 18.06.1945

Nun sind 41 Jahre vergangen, und meine Gedanken lassen mich nicht los, was damals zu Unrecht geschah, nur weil wir Deutsche sind. So möchte ich denjenigen die Erinnerung wiedergeben, die heute dies alles vergessen haben.

Ein herrlicher Sommertag begann, doch man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Schon die Vormonate waren unruhig. Der Krieg war zu Ende, und verschiedene Gerüchte von der Austreibung der Deutschen waren im Umlauf, und doch wollten wir es nicht wahrhaben. So wurden wir verunsichert, und überraschend gegen Mittag kam die Nachricht ins Haus: Um 14 Uhr hatten sich alle bei den zwei Linden an der Straße nach Brand zu versammeln. Mittags kam die Schwester aus dem Betrieb heim, las die Zeilen – und war entsetzt und kopflos. Keiner konnte einen klaren Gedanken fassen; wir wussten nur, dass wir gleich losgehen mussten, ohne alles, nur mit dem, was wir am Leib hatten. Ich hatte ja drei Kinder, 9 Jahre, 2 ½ und das kleinste war 7 Monate alt. Wir kamen am Sammelplatz an, einige waren schon dort. Es wurden immer mehr und mehr; sie kamen mit Leiterwagen, es gab ein furchtbares Durcheinander und von überall her Kindergeschrei. Als wir abgeholt wurden, sollten alte Leute und Kinder auf die Wagen. Die Schwester und ich fuhren mit den Kinderwägen hinterher. Niemand wusste, wohin es geht, und so liefen wir viel Kilometer über drei Berge nach Hohenelbe, und wir landeten im Russenlager.

Solange es hell war, blieben wir vor dem Lager. Doch dann wurde uns befohlen, hineinzugehen. In dem Raum war es so finster, dass die Leute kaum zu erkennen waren. Eine feuchtwarme Luft schlug uns entgegen. Für Hunderte von Menschen ein Massenlager mit Stroh und Decken, jeder suchte sich ein Plätzchen. Ich ließ mich in einer Ecke nieder, um noch mein kleinstes Kind zu stillen. Hinter meinem Rücken war eine Holzverkleidung.

Es dauerte nicht lange, bis es zu beißen und zu jucken anfing. Von Schlafen war keine Rede, und ich sehnte den Morgen herbei. Als es heller wurde, sah ich nach meinem Kind in dem weißen, bestickten Kissen, und ich sah kleine rote Insekten darauf kriechen. Ich betrachtete die Holzwand: aus den Ritzen krochen noch mehr solcher kleiner Viechlein. Als ich fragte, was das für Insekten seien, kam von der anderen Seite die Antwort: Wanzen – Wanzen. Ich kannte bis jetzt noch keine, und ich drückte mit dem Schuh voller Abscheu drauf. Aber immer wieder kamen diese Biester heraus. Ein Ekel stieg in mir hoch, und ich gab auf. Bei Tage verschwanden sie.

Wir waren tagsüber alle vor dem Lager. Man grübelte, und niemand wusste, was mit uns geschehen sollte.

Wieder kam die Nacht und die Angst vor den Wanzen. Es würde eine noch schlimmere Nacht sein. Am Morgen hatte ich Blasen, so groß wie Fingernägel, an den unbedeckten Körperstellen. Ich bekam hohes Fieber, 40 Grad, und man verständigte den Lagerkommandanten. Ein Tscheche fuhr mit mir zu meinem Hausarzt Dr. Ettel, der im RAD-Lager war. Der stellte eine Wanzenvergiftung fest und forderte: sofort das Kind abstillen und raus aus dem Lager. Der Arzt verband mir Arme und Beine, Gesicht und Hals wurden eingeschmiert. Anschließend fuhr mich der Tscheche wieder ins Lager zurück. Ich kam eine Nacht in das RAD-Lager, wo Stockbetten standen. Die Nacht ist im Fieber vergangen, gegen Mittag ging es zurück, und am Spätnachmittag konnte ich mit meiner Familie heim. Die Schwester wollten sie nicht freigeben, aber ich konnte ja nichts tun mit den Blasen an den Fingern. Und so kam sie doch mit heim.

Am Narodni Vybor musste die Schwester die Schlüssel fürs Haus holen. Zwei Männer kamen heraus, und einer fragte, was ich hätte. Meine Antwort: Wanzenvergiftung. Dies ließ ihn folgendes bekennen: Das ist recht; unsere Leute haben es auch kennengelernt! Warum soll es euch besser gehen?

So waren wir wieder daheim und glücklich, frei zu sein. Aber es blieb die erste nachte Vertreibung. Eine Woche verging, und die Blasen heilten ab. Die Tage waren voller Unruhe und voller schlechter Nachrichten. Tschechen und Russen kamen in die Häuser, holten die Frauen und plünderten. Voller Angst waren die Nächte. So kam der 10. Juli 1945 heran.


Der zweite Transport: 10.07.1945

Wieder ein heißer Sommertag. Es war mein Geburtstag. Ich war beim Zahnarzt Bittner in Hohenelbe bestellt. Als ich im Wartezimmer saß, kam die Hackel Manschi (Puschef) herein und rief: "Anni, auf dich warten sie daheim. Es geht nun der zweite Transport weg."

Ich lief, was ich konnte, und als ich die Mittelhöhe herunter war, sah ich beim "Zweiten Herrenbusch" am unteren Ende einige Männer, die dort gegraben haben. Und mir war so komisch zumute. Doch ich musste weiter. Ich rannte den Kapellenberg hinauf und runter, und als ich beim Scharfbauer ankam, hörte ich Schreie. Die Straße bis zum Gasthof Jäger war voller Menschen. Beim Narodni Vybor standen Tschechen an der Treppe mit Gummiruten. Ich sah, wie zwei Männer einen Mann brachten, dessen Gesicht ganz blau und gelb geschlagen war. Gehetzt lief ich durch die Menschenmenge, und als ich daheim ankam, stand die Schwester mit dem 9-jährigen Jungen und zwei Kinderwägen schon vor dem Elternhaus. Ein Tscheche und ein Russe hielten sich in der Nähe auf. Die Schwester haben sie vom Taschentuch-Betrieb "Honimeier" nachmittags um ½ 3 Uhr herausgeholt. Sie nahm meine drei Kinder von Oma mit, setzte die Kleinen in die Wagen, und jetzt wartete sie vor dem Haus, bis ich kam.

Einer meinte, ich könne mir noch eine Flasche fürs Kind machen; er ging mit in die Wohnung und passte auf. Aus dem Zimmer holte ich mir noch eine Schachtel Kekse und die Schmuckkassette. Der Tscheche sah es und nahm mir alles ab. Ich stand da im leichtesten Sommerkleid mit der Babyflasche.

Am Abend war dann der Abmarsch ins RAD-Lager nach Hohenelbe. Ich bekam Angst vor der Nacht. Ich saß bis ½ 1 Uhr an der Lagertüre mit dem Kleinkind im Kinderwagen. Langsam wurde es kalt und ich musste ins Stockbett. Die Nacht war kurz. Und als der Morgen graute, ging ich hinaus. Untertags erfuhren wir, dass am folgenden Tag ein Transport vom Lager weitergehen sollte. Wir meldeten uns an, und es begann die Reise ins Ungewisse.

Das waren die ersten Transporte aus Hennersdorf. Nackt, ohne alles, ahnungslos aus der Heimat vertrieben. Dies ist nur ein kurz gefasster Ausschnitt vom Abschied aus der Heimat. Das einzige Gut war meine Babyflasche, Abschied an meinem Geburtstag. Die Reise ins ungewisse Land brachte noch viel mit sich, ehe wir im dritten Lager ankamen.

Noch heute frage ich mich, wie man das alles ertragen konnte, und wie konnte man das zulassen? Was wir alle noch weiter erleben sollten, ergäbe noch viele Geschichten für sich, uns unsere Nachkommen könnten eine so wenig wie die anderen verstehen.

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